„Die Welt hat sich viel zu nah an den Abgrund heranbewegt.“

Von Michelle Eickmeier

Mehr als 30 Staats- und Regierungschefs und rund 100 Minister debattieren auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) zur aktuellen Lage der Weltsicherheit. Und diese sieht nicht gut aus, lässt Wolfgang Ischinger, MSC-Direktor, die Welt wissen.

Die aktuelle weltpolitische Gefährdungslage steht jährlich im Fokus der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Mit Blick auf die vielen Krisen betont der MSC-Chef Wolfgang Ischinger, die Werte des Westens wie Demokratie und Freiheit befänden sich im Niedergang und seien gefährdet.

„Die internationale Ordnung selbst, die wir in der Nachkriegsphase aufgebaut haben, ist bedroht“, stellt er mit Blick auf die Instabilität des Westens fest. Zwar gäbe es gleichzeitig auch Fortschritt, jedoch leuchteten die wahren Signale derzeit rot.

„Ich denke, die Welt hat sich näher, sehr viel näher, viel zu nah an den Abgrund heranbewegt. Wir haben zu viele Konflikte“, schließt Ischinger seine Eröffnungsrede und appelliert an die Staatsgäste, „konkrete Schritte“ zu unternehmen.

Verteidigung und Diplomatie – Der duale NATO-Ansatz

Mit Blick auf die bestehende Kooperation zwischen der NATO und der EU unterstreicht NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Ziel sei es, die europäische Verteidigung zu stärken. Dabei ginge es aber nicht um ein Wetteifern zwischen NATO und EU, um die „Schaffung alternativer Kommandostrukturen oder Alternativen zur NATO“, sondern darum, Europa zu schützen. Dafür brauche man die transatlantische Bindung, aber auch Nicht-EU-Bündnispartner wie Norwegen, die Türkei, Kanada und die Vereinigten Staaten sowie demnächst Großbritannien.

Die EU und die NATO haben verschiedene Schnittstellen. Das Verhältnis zwischen NATO und der EU ist vor allem eine Kooperation hinsichtlich einer Stärkung der Sicherheit innerhalb der EU, die sich bereits im Jahr 2014 als Reaktion auf die Annexion der Krim abgezeichnet hatte und dann 2015 konkret wurde, wonach beide Partner eine gemeinsame Strategie verabschiedeten und hybride Bedrohungen auf ihre gemeinsame Agenda setzten. EU und NATO, die ihre Zusammenarbeit zur Erhöhung der Cybersicherheit kontinuierlich vertiefen, sind bereits 2016 eine enge Kooperation im Kampf gegen hybride Bedrohungen eingegangen. Die NATO hatte bereits auf dem Gipfeltreffen in Warschau im Juli 2016 vereinbart, ein hybrider Angriff könne den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags und damit den Bündnisfall auslösen, wonach die NATO die Bekämpfung hybrider Kriegsführung als Teil ihrer kollektiven Verteidigung ansieht.

Das Krisenmanagement der NATO außerhalb seiner Grenzen sei seit 25 Jahren nicht mehr aktiv gewesen, bis zu dem Zeitpunkt der „illegalen Annexion der Krim“ und Russlands „Destabilisierung der Ostukraine“, aber auch aufgrund der Herausforderungen der nähergekommenden terroristischen Bedrohung. Stoltenberg unterstreicht:

„Wir verstärken unsere kollektive Verteidigung, aber gleichzeitig streben wir nach einer besseren Beziehung zu Russland, weil wir keinen neuen Kalten Krieg wollen, wir wollen kein neues Wettrüsten.“

Es ist ein dualer Ansatz, den die NATO in ihrer Beziehung zu Russland verfolgt. Auf der einen Seite setzt sie auf ihre verhältnismäßige Verteidigung, auf der anderen Seite will sie offen sein für den Dialog, da es ihr um eine Reduzierung der Spannungen und eine verbesserte Beziehung zu Russland als Nachbarland geht. Dennoch nimmt das nordatlantische Bündnis Russland weiterhin als Bedrohung für die Sicherheit wahr. Als Grund für die größte Verstärkung der kollektiven Verteidigung der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges sieht sie, neben der Annexion der Krim, die zunehmende russische Präsenz und die in Georgien und Moldawien stationierten russischen Truppen. Stoltenberg befürwortet die neue verstärkte militärische Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa.

In ihrer Verteidigungspolitik hat die NATO u. A. vier multinationale Kampftruppen in Osteuropa stationiert, darunter den von Deutschland geführten Truppenverband zusammen mit Kroatien, Frankreich, den Niederlanden und Norwegen in Litauen sowie die Streitkräfte in Estland, Lettland und Polen. In diesen Ländern wächst die Angst vor einer militärischen Aggression oder Einschüchterung durch Russland wie im Falle von Georgien oder der Ukraine. Trotzdem hat die NATO, so ist es dem Münchner Sicherheitsbericht unter dem Motto „To the Brink – and Back?“ („Hin zum Abgrund – und zurück?“) zu entnehmen, mit 31.813 Soldaten im Vergleich zu Russland mit 78.000 Soldaten weniger Streitkräfte in den baltischen Staaten stationiert. Bei militärischen Kampfflugzeugen ist die NATO deutlich stärker positioniert als Russland.

Cybersecurity
Der Hybridkrieg wird an vielen Fronten, auch im Cyber, gekämpft. Foto: MSC / Kuhlmann

Neue nukleare Bedrohung

Die nukleare Bedrohung sei heute wieder auf der Agenda, stellt Stoltenberg mit Besorgnis fest. Er warnt vor einer nuklearen Eskalation, die nicht nur von Nordkorea ausgeht.

Neben Nordkorea, das mittlerweile jedes NATO-Land mit Raketen erreichen könnte, sagt er, das „Problem ist, dass die USA festgestellt haben, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstößt, indem es eine neue bodengestützte Mittelstreckenrakete mittlerer Geschwindigkeit entwickelt und testet.“ Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zur Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern, der diese Waffen verbot, sei eine Säule europäischer Sicherheit gewesen und nun bedroht.

„Wir sehen, dass Russland seine nuklearen Fähigkeiten modernisiert, neue nukleare Systeme entwickelt und die Rolle von Atomwaffen in seiner Militärstrategie erhöht.“ Dies sei ein Grund zu echter Besorgnis, so Stoltenberg. Die NATO selbst habe ihr nukleares Arsenal um 90 Prozent reduziert. Hoffnung sieht Stoltenberg im Dialog mit Russland und dem NATO-Russland-Rat (NRC), das seit 2016 erstmals wieder aufgenommen wurde. Aufgrund der Annexion der Krim reagierte die NATO mit der Aussetzung des NATO-Russland-Rates im April 2014.

„Die russische Welt und die freie Welt“

Vor dem Hintergrund der hybriden Kriegsführung von Russland, das die Welt damit regelrecht überziehe, appellierte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, dem gemeinsam entgegenzustehen und zu beweisen, dass Erpressung und Aggression Europa nicht zerstören könne.

Die Annexion der Krim, russische Trolle, Propagandisten, Fake News, Desinformation und Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen sowie nicht zuletzt der Cyberangriff auf die Ukraine demonstrierten die ihm bekannte „verdeckte Agenda des Kremls“ zur Zerstörung der europäischen Stabilität mittels hybrider Taktiken.

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hatten am Donnerstag bestätigt, dass der groß angelegte Cyberangriff von 2017 mit dem Schadprogramm Petya/NotPetya, der zunächst gegen die Ukraine gerichtet war, bevor er sich global ausbreitete, vom russischen Militär gesteuert war. Der Cyberangriff, der weltweit tausende Computer und kritische Infrastrukturen betraf, hatte zunächst die ukrainische Infrastruktur der „Finanz-, Energie- und Regierungssektoren“ im Visier, hieß es in einem Statement des britischen Außenministeriums. Moskau bestreitet eine Verantwortung.

Der britische Verteidigungsminister Gavin Williamson sprach von einer „neuen Ära der Kriegsführung“ mit einer „zerstörerischen und tödlichen Mischung aus konventioneller Militärmacht und bösartigen Cyberangriffen.“

Im Kampf gegen die wachsende hybride Bedrohung durch Russland, rät Poroschenko dazu, zu demonstrieren, dass Europa ein Kontinent des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität sei, das die Rechte aller akzeptiere.

Poroschenko, dem es um die Verteidigung der Souveränität der Ukraine geht, fragt: „Wird es eine russische Welt von alternativen Werten, oder werden wir eine freie Welt mit allgemeingültigen Werten haben?“ Kritikern hält er den „enormen Unterschied zwischen der russischen und der freien Welt“ vor Augen, der vor allem den Lebensstandard beträfe. Die russische Welt scheine alles, was sie angreife, dem Abgrund zuzuführen. Gemäß der russischen Weltdoktrin sollte ganz Europa wie Kaliningrad oder Donezk unter Besatzung aussehen, so Poroschenko. Russland sei nicht auf die Krim gekommen, um die Rechte der Menschen zu schützen, denn diese Rechte würden überall in Russland verletzt, klagt Poroschenko den Kreml an. Als Beweggrund für den Hybridkrieg Moskaus führt Poroschenko den Zusammenbruch der Sowjetunion an, der aus der Perspektive von Moskau als größte „geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ angesehen werde.

Ein Ende des Konflikts sieht Poroschenko in der Umsetzung Russlands des Minsker Friedensabkommens durch Russland und der Entsendung einer UN-Mission in den Donbass. Seine Befürchtung ist jedoch, dass Russland kein echtes Interesse an Frieden zeige, da es UN-Friedenstruppen nur bis zur Kontaktlinie lasse.

Poroschenko spricht sich für die Aufrechterhaltung von Sanktionen gegenüber Russland aus, solange es nicht die Umsetzung des Minsker Abkommens wahrnehme.

Genau diese EU-Sanktionen will Außenminister Sigmar Gabriel abbauen, wofür er deutliche Kritik bei der Union erntete.

Wahleinmischung „nur Spekulation“

Die am Freitag von US-Sonderermittler Robert Mueller vorgelegte Anklageschrift gegen 13 Russen aufgrund der Einmischung in die US-Präsidentschaftswahl 2016 mit einer breit angelegten Social-Media-Kampagne bezeichnete Außenminister Sergej Lawrow als pure „Spekulation“.

Neben der separaten strafrechtlichen Untersuchung von Mueller ermitteln zwei Kongressausschüsse in einer jeweils unabhängigen Untersuchung, ob Russland durch das Hacken und Veröffentlichen kompromittierender E-Mails des „Democratic National Commitee“ (DNC) die Kandidatur von Hillary Clinton zu diskreditieren suchte. Mueller untersucht zudem, ob es eine Absprache zwischen Donald Trump, seinen Mitarbeitern und Moskau während seiner Wahlkampagne 2016 gegeben hat. Moskau bestreitet dies. Mueller ermittelt auch, ob sich Trump der Justizbehinderung schuldig gemacht hat, um somit die Russland-Ermittlungen zu vereiteln. Auch Trump bestreitet eine Absprache mit Moskau und eine Justizbehinderung.

Herbert Raymond McMaster, nationaler US-Sicherheitsberater sagte auf der MSC, die Belege für die russische Einmischung seien jetzt unumstößlich.

Cyber Sicherheit
Hinter den Kulissen der „Höhle des Löwen“: Frostige Zeiten zwischen Moskau und Washington. Foto: MSC / Kuhlmann

Auf dem Tiefpunkt – Bilaterale Beziehungen zu Moskau

Aufgrund der angespannten Beziehungen zwischen Moskau und Washington sowie der NATO und EU, ist das erneute Erscheinen des russischen Außenministers Sergej Lawrow  zur diesjährigen MSC ein Zeichen der noch funktionierenden diplomatischen Beziehungen und vielleicht keine Selbstverständlichkeit.

Noch am Freitag sagte Lawrow in einem Interview mit dem Nachrichtensender Euronews: „Die internationale Präsenz der USA nimmt nicht nur ab, sie dehnt ihre militärische Dimension immer mehr aus.“

Lawrow kritisiert auch die EU: Es sei gefährlich, darüber müsse man sich in der EU bewusst sein, Länder vor die Wahl einer Entscheidung zwischen der EU und Russland zu stellen, sagte Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Verweis auf die Ukraine als gleichzeitigem Nachbarn von Russland und der EU. Der Versuch auf Russland und andere Druck auszuüben, habe unseren Kontinent nicht sicherer gemacht. „Das Konfliktpotential steigt. Wir haben überall neue Krisen“, so Lawrow.

Er spricht Russland von einer Schuld an der neu entstandenen Situation mit der EU, im Zuge des „ansteigenden internationalen Terrorismus“ und „illegaler Migration“, indem „eine starke Partnerschaft nicht möglich“ gewesen sei, frei. „Wir möchten weiterhin mit der EU zusammenarbeiten“, stellt er jedoch klar, und bekräftigt das Festhalten am Minsker Abkommen.

Lawrow kritisierte einen neu aufkommenden Faschismus in Europa und spricht von dem Verbot „unerwünschter Medien“. Von der Situation der Pressefreiheit in Russland spricht er nicht.

Audio/Vorlesemodus

Unterstützen Sie die journalistische Arbeit von SUNGUNEWS.

AFP/Reuters