Krise zwischen NATO und Moskau –Gefährdeter INF-Vertrag und Konfrontation im Asowschen Meer

Von Michelle Eickmeier

Moskaus destabilisierende Aktionen, wie sie von der NATO bezeichnet werden, beherrschen weiterhin die Themenagenda des transatlantischen Bündnisses. Im Zentrum stehen die jüngste Konfrontation Russlands mit der Ukraine im Schwarzen Meer und der Streit mit dem Westen über den INF-Vertrag.

Die nuklearen Fähigkeiten Russlands geben der NATO weiterhin Anlass zur Besorgnis über die europäische Sicherheit. Es seien keine neuen US-Raketen in Europa stationiert, jedoch neue russische Raketen, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf dem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel, und wirft Moskau schwere Verstöße gegen den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) vor. Dieser sieht das Verbot und die Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern vor.

30 Jahre Rüstungskontrolle und Stabilität gefährdet

Die von den NATO-Außenministern in Brüssel herausgegebene Erklärung zum Vertrag über nukleare Streitkräfte (INF) beschuldigt Russland, das Raketensystem 9M729 (NATO-Code SSC-8) entwickelt und eingesetzt zu haben und somit gegen den INF-Vertrag zu verstoßen.

Diese Raketen seien besonders gefährlich, weil sie schwer zu lokalisieren, mobil und nuklearfähig seien, und zudem die Warnzeit verkürzen. Sie könnten europäische Städte erreichen und daher auch die Schwelle für einen möglichen Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Konfliktes in Europa senken, sagte Stoltenberg. Die NATO-Verbündeten appellierten einstimmig an Russland, zur vollständigen Einhaltung der Vorschriften zurückzukehren. Es läge nun an Russland, den INF-Vertrag zu wahren.

Gleichzeitig betonte Stoltenberg, keine Stationierung neuer Atomraketen in Europa zu beabsichtigen. Die NATO selbst habe ihr nukleares Arsenal um 90 Prozent reduziert. „Aber als Bündnis bekennen wir uns zur Sicherheit und zur Sicherheit aller unserer Nationen“, so Stoltenberg in einem von El Pais und La Repubblica veröffentlichten Beitrag.

Der Atomwaffenvertrag aus der Ära des Kalten Krieges ist ein wichtiges Rüstungskontrollabkommen, das seit über 30 Jahren die euro-atlantische Sicherheit garantiert.

USA stellen Moskau Ultimatum

US-Außenminister Mike Pompeo sagte in Brüssel, die USA haben Russland ein Ultimatum von 60 Tagen gestellt, um den INF-Vertrag zu erfüllen. Moskau müsse sein neues mobiles Marschflugkörpersystem zurückziehen, ansonsten sähe sich Washington nicht mehr an die Verpflichtungen des Atomabkommens gebunden.

Die NATO fordert Russland trotz des angedrohten Austritts der USA nachdrücklich dazu auf, den INF-Vertrag einzuhalten, bekennt sich aber gleichzeitig zu den Informationen von US-Geheimdiensten, wonach Moskau den Vertrag derzeit verletze.

Seit nunmehr fünf Jahren sollen die Vereinigten Staaten vergeblich versucht haben, glaubwürdige Antworten von Russland zu dem neuen Raketensystem zu erhalten.

Bereits zu Obamas Regierungszeit sollen die USA festgestellt haben, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstoße, indem es eine neue bodengestützte Mittelstreckenrakete mittlerer Geschwindigkeit entwickele und teste.

Auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, forderte Russland und die USA zur Erhaltung des Vertrages auf, und warnte, Europa wolle nicht noch einmal ein Schlachtfeld für die Weltmächte werden, wie es im Kalten Krieg der Fall war.

In einer Pressekonferenz des NATO-Außenministertreffens erklärte Stoltenberg, Russland habe die Existenz des Raketensystems 9M729 lange Zeit abgestritten, jüngst aber bestätigt, da sie mit immer mehr Informationen konfrontiert worden seien. Er unterstrich:

„Und jetzt versuchen sie der Welt zu sagen, dass dieses neue Raketensystem nicht gegen den Vertrag verstößt. Es ist ein bisschen seltsam, dass sie jahrelang die Existenz eines Systems bestritten haben, wenn es rundum mit dem Vertrag in Übereinstimmung gestanden hat.“

Putin: Raketensystem 9M729 kein Verstoß gegen INF

„Wie wird die Antwort von unserer Seite sein? Ganz einfach: Wir werden das auch tun“, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin, und ergänzte, Russland werde sich aus dem INF-Vertrag zurückziehen, sobald die USA diesen Schritt gingen. Man sei gegen die Zerstörung dieses Vertrages. Aber wenn dies geschieht, werde Russland entsprechend reagieren. Die Forderung zur Vernichtung seiner nuklearfähigen Rakete lehnt Moskau ab. Putin sagte, Washington habe bereits beschlossen, den INF-Vertrag aufzukündigen und einen Betrag für die Entwicklung von Raketen vorgesehen, die vertragswidrig seien.

„Sie dachten, wir würden es nicht merken“, merkte er an, und, dass die Vereinigten Staaten Russland als Sündenbock für das mögliche Ende des INF- Atomwaffenabkommens machen würden.

Kreml-Sprecher Dmitry Peskov ergänzte, Russland habe den INF-Vertrag nicht verletzt und hielte weiterhin an seiner Vertragsbindung fest.

Offene Konfrontation im Asowschen Meer

Zuletzt hatte der Vorfall im Asowschen Meer, in der Straße von Kertsch, die Spannungen zwischen Kiew und Moskau verschärft.

Die russische Küstenwache hatte ukrainischen Schiffen die Durchfahrt zum Asowschen Meer verweigert und die Schiffe beschossen, wobei mehrere Marinesoldaten verletzt wurden. Den anschließend 24 inhaftierten Besatzungsmitgliedern, darunter zwei Mitarbeitern der ukrainischen Spionageabwehr, drohen in Russland bis zu sechs Jahre Freiheitsstrafen. Der Vorwurf des FSB, dem russischen Inlandsgeheimdienst, lautet, als organisierte Gruppe illegal die russisch-marine Hoheitsgrenze überschritten zu haben. Moskau betrachtet die Meerenge, die das Asowsche Meer mit dem Schwarzen Meer verbindet und zwischen dem ukrainischen Festland, Russland und der durch Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim gelegen ist, als russisches Hoheitsgewässer. Kiew warf Moskau militärische Aggression vor und verhängte das Kriegsrecht in Teilen der Ukraine.

Die Straße von Kertsch bildet die einzige wirtschaftlich wichtige marine Passage für das am Asowschen Meer gelegene ca. 370 km ukrainische Festland, darunter die Hafenstädte Mariupol und Berdjansk. Die völkerrechtswidrig annektierte Krim wird innerhalb der NATO nicht als russisches Hoheitsgebiet akzeptiert.

Offene Hybridtaktik Moskaus

Im Kontrast zu den bisher beobachteten hybriden Kriegstaktiken Russlands in der Ostukraine und der durch Russland annektierten Krim, ist dies eine russisch-militärische Aktion, die nicht verdeckt, sondern offen vollzogen wurde. Der Hybridkrieg ist eine Kombination militärischer und ziviler Aktionen, die verdeckt oder offen geschehen, um ein Land zu destabilisieren.

Poroschenko: Moskau verletzt Genfer Konvention

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg betonte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, dass es sich bei den von Russland inhaftierten ukrainischen Marineoffizieren um Kriegsgefangene handele und Russland die Genfer Konvention missachte. Er habe der NATO eine Liste mit Mitgliedern des FSB gegeben, die an der Klage gegen die ukrainischen Marinesoldaten beteiligt waren.

„Wir sprechen hier nicht nur über den FSB, wir sprechen über die Richter, wir sprechen über die Staatsanwälte, die versuchten, ukrainische Matrosen ins Gefängnis zu stecken“, sagte Poroschenko.

Als Reaktion auf die Eskalation im Asowschen Meer flog die US-Luftwaffe einen unbewaffneten Solidaritätsflug mit internationalen Beobachtern im Rahmen eines internationalen militärischen Überwachungsabkommens über die Ukraine. Trump sagte in einem Tweet das bevorstehende Treffen mit Putin in letzter Minute zum G20-Gipfel in Argentinien vor dem Hintergrund der neuen Eskalation ab.

In einer ersten Reaktion sagte Stoltenberg, es gäbe keine Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt durch Russland und forderte die Freilassung der ukrainischen Seeleute und Schiffe sowie die Freiheit der Navigation und den ungehinderten Zugang zu den ukrainischen Häfen in das Meer von Azow. Mit der Behinderung ukrainischer Handelsschiffe wolle Russland die Stabilität der Ukraine untergraben. Gleichzeitig rief er zur Besonnenheit und Deeskalation auf. Er verwies auf die erhöhte NATO-Präsenz in der Schwarzmeerregion, die NATO unterstütze die Ukraine weiterhin politisch und praktisch durch Logistik und militärische Ausbildung. In einer Sitzung der NATO-Ukraine-Kommission sagten die NATO-Verbündeten Kiew weiterhin ihre Solidarität für dessen territoriale Integrität und Souveränität zu. Zudem ermutigte die NATO die Ukraine in deren Bestrebung, dem NATO-Bündnis beizutreten und den demokratischen Reformprozess weiter voranzutreiben. Poroschenko habe der NATO zugesichert, dass sein Erlass über die Verhängung des Kriegsrechts keine Schwierigkeiten für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und den politisch-demokratischen Prozess in der Ukraine schaffen werde. Kritiker werfen Poroschenko vor, das Kriegsrecht gezielt für seine umkämpfte Wiederwahl am 31. März zu nutzen.

Putin beschuldigt Poroschenko, den Zusammenstoß in der Straße von Kertsch bewusst provoziert zu haben, um seine Umfragewerte vor seiner Wiederwahl zu steigern.

Unterdessen kündigte die Europäische Union an, neun weitere Personen auf die Sanktionsliste zu setzen, da diese an der Organisation von Wahlen in den von den prorussischen Separatisten in Donezk und den benachbarten Luhansk-Regionen kontrollierten Gebieten der Ostukraine beteiligt waren. Die Wahlumfragen im November werten Kiew und internationale Unterstützer, darunter die EU, als Betrug.

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AFP/AP/Reuters/RFE/RL