Ende der Rüstungskontrolle? – Ultimatum zur Rettung des Atomwaffenvertrages abgelaufen 

Von Michelle Eickmeier

Das Ultimatum der USA an Russland, den INF-Vertrag zu erfüllen, ist nun nach 60 Tagen abgelaufen. Die USA hatten angekündigt, aus dem Atomwaffenvertrag auszusteigen, sollte Russland nicht sein nuklearfähiges Raketensystem 9M729 zurückziehen. Im Raum steht die Angst vor einem neuen Wettrüsten zwischen den Vereinigten Staaten und Russland in Europa sowie auf asiatisch-pazifischem Terrain, vor dem Beobachter warnen. Steht die Rüstungskontrolle jetzt vor dem Aus?

Die Positionen der NATO-Verbündeten und Russlands kämen grundsätzlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner, stellte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch im Januar auf einer Pressekonferenz im Anschluss an den NATO-Russland-Rat (NRC) fest. Dabei ging es neben dem Krieg in der Ostukraine vor allem um den drohenden Austritt der Vereinigten Staaten aus dem INF-Vertrag über nukleare Streitkräfte (Intermediate Range Nuclear Forces), der das Verbot und die Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis zu 5.500 Kilometern vorsieht.

Bereits in der von den NATO-Außenministern herausgegebenen Erklärung vom Dezember vergangenen Jahres wird Russland die Entwicklung und der Einsatz des Raketensystems 9M729 (NATO-Code SSC-8) vorgeworfen, der gegen den INF-Vertrag verstoße. Diese Raketen seien besonders gefährlich, weil sie schwer zu lokalisieren, mobil und nuklearfähig seien und zudem die Warnzeit verkürzen. Sie könnten europäische Städte erreichen und daher auch die Schwelle für einen möglichen Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Konfliktes in Europa senken, sagte Stoltenberg im Dezember. 

60-Tage-Ultimatum abgelaufen

Die USA hatten Moskau ein 60-Tage-Utimatum gestellt, um zur Einhaltung der Vorschriften zurückzukehren. Allerdings habe Russland nun, da das Ultimatum der USA ausgelaufen ist, noch sechs Monate Gelegenheit, die Vorschriften des INF-Vertrags zu erfüllen, bis der Austrittsprozess der USA aus dem Atomwaffenabkommen des Kalten Krieges vollständig abgeschlossen sei. US-Außenminister Mike Pompeo gab den INF-Rücktritt mit Wirkung zum 2. Februar bereits am Freitag bekannt und kündigte eine offizielle Mitteilung an Moskau an. Sollte Russland keine Schritte in Richtung glaubwürdiger Rüstungskontrolle unternehmen, werde der Vertrag aufgekündigt. Wenige Stunden zuvor gab der Nordatlantikrat, das wichtigste Entscheidungsgremium der NATO, eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie der US-Rücktrittsmitteilung ihre volle Solidarität zuerkannte.

„Ein Vertrag, zu dem zwei Vertragsstaaten gehören und der von einer Seite verletzt wurde, ist de facto ungültig“, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas am Rande eines EU-Außenminister-Treffens in Bukarest.

Über die Motive, warum Russland diese neuen Raketen entwickle und einsetze, könne man nur vorsichtig spekulieren, so Stoltenberg. Verschiedene politische und militärische Verantwortliche, darunter auch Russlands Präsident Wladimir Putin, hätten mehrmals öffentlich ihre Bedenken hinsichtlich des INF-Vertrags bekundet, da dieser ihrer Ansicht nach ihre Reaktionsfähigkeiten angesichts der ansteigenden Entwicklung von Waffen mittlerer Reichweite in Ländern wie China, Indien, Pakistan, Iran und auch Nordkorea beschränke. Aber auch US-Vertreter hatten sich besorgt über ihre Vertragsbindung geäußert, da China, das nicht an den Vertrag gebunden ist, eine Vielzahl von Raketen einsetze.

„Sie haben sich daher bereits besorgt über den Vertrag geäußert, und ich denke, das ist der Hauptgrund, warum sie jetzt auch gegen den Vertrag verstoßen“, sagte Stoltenberg.

Gleichzeitig räumte er ein, dass in den 1980er Jahren nahezu ausschließlich die USA und die Sowjetunion im Besitz von Raketen- oder Waffensystemen mittlerer Reichweite waren, während diese Art von Waffensystemen heute von China, Indien, Pakistan, dem Iran und auch Nordkorea entwickelt werde.

Einige NATO-Vertreter werten Russlands Raketensystem, das sich einfach verstecken lasse, als gezielte Abwehr gegen chinesische Raketenprogramme, was jedoch nicht dessen Einsatz rechtfertige.

Stoltenberg: Russland will ablenken

Umgekehrt beschuldigt Russland die USA, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Gemeint ist das US-Raketenabwehrsystem Mk-41, eine Senkrechtstartanlage für Flugkörper im Meer, stationiert in Polen und Rumänien, das mehrere Raketen abfeuern könne, so auch die Tomahawk-Marschflugkörper, eine Waffe, die vom INF-Abkommen verboten sei, wenn sie auf einem bodengestützten Werfer eingesetzt werden würde, lautet der Vorwurf Moskaus. Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow spricht von Vertragsbruch der USA. Die NATO behauptet, das Raketenabwehrsystem solle Raketen aus dem Iran, nicht aus der Russischen Föderation abschießen.  Zudem beschuldigt Russland das Vorhaben der USA ein Raketenabwehrsystem im Weltraum einzusetzen.

Die NATO sieht jedoch keinen Verstoß gegen den INF-Vertrag – Russland wolle damit vom eigentlichen Problem ablenken: „Es gibt keine neuen US-Raketen in Europa, aber neue russische Raketen in Europa“, unterstrich Stoltenberg. Die NATO-Verbündeten appellieren weiterhin an Russland, den INF-Vertrag durch vollständige Einhaltung der Vorschriften zu wahren. Oberste Priorität ist die Rettung des INF-Vertrags, bevor über mögliche Schritte spekuliert werden könne, machte Stoltenberg deutlich, dem es vor allem um Zurückhaltung und  Deeskalation geht. Die NATO forderte Russland bereits auf dem Gipfeltreffen in Wales im Jahr 2014 zur vollständigen und überprüfbaren Einhaltung des Abkommens auf.

„Der INF-Vertrag ist ein Eckpfeiler für die Rüstungskontrolle für unsere Sicherheit“, sagte Stoltenberg auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Der potenzielle Zusammenbruch des INF-Vertrags sei derzeit die dringlichste Herausforderung der NATO.

Zukunft der Rüstungskontrolle offen

Mit dem angedrohten Austritt der USA aus dem INF-Vertrag sind 30 Jahre Rüstungskontrolle und Stabilität gefährdet. Im Umgang mit Russland verfolgt die NATO einen dualen Ansatz. Zum Einen will sie sich weiterhin für den Prozess der Rüstungskontrolle einsetzen, gleichzeitig verfolgt sie auch eine militärische Strategie der Abschreckung und Verteidigung. Man werde jedoch nicht notwendigerweise Eins zu Eins das Vorgehen Russlands spiegeln. So begrüßte Stoltenberg die Initiative von Heiko Maas, eine Konferenz in Berlin einzuberufen, um neue Initiativen zur Rüstungskontrolle zu prüfen.

„Ich habe mit meinem russischen Kollegen darüber gesprochen und ihnen gesagt, dass wir darauf setzen, dass Russland seine Vertragsverletzungen korrigiert und seine Marschflugkörper entwaffnet, damit der INF-Vertrag noch eine Chance hat“, sagte Maas, der sich für die Rettung des INF-Abkommens einsetzt.

Ein weiterer Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA, der New-START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty), seit dem 5. Februar 2011 in Kraft, läuft 2021 aus. Dieser begrenzt die Anzahl der eingesetzten nuklearen Sprengköpfe auf 1.550. Auf der jährlichen Pressekonferenz im Dezember äußerte sich Putin besorgt über die Zukunft des New-START-Abkommens und kritisierte das mangelnde Interesse der USA. Ein U.S.-Vertreter sagte, die U.S.-Regierung wäge ab, ob New-START um fünf Jahre verlängert werden müsse.

„Es werden noch keine Gespräche über die Erweiterung geführt. Haben die Amerikaner kein Interesse, brauchen sie sie nicht?“, fragte Putin. Für die Menschheit sei das sehr schlecht, da man sich einer gefährlichen Schwelle nähere, gab er zu Bedenken.

INF-Vertrag: Washington drängt Moskau seit Jahren zur Vertragsverpflichtung

Seit 2013 äußern die Vereinigten Staaten Bedenken gegenüber Russland bezüglich der Entwicklung und Tests Russlands neuer bodengestützter Mittelstreckenrakete und sollen vergeblich versucht haben, glaubwürdige Antworten zu dem neuen Raketensystem und Beweise zur Einhaltung des INF-Abkommens von Russland  zu erhalten. Russland habe seine Darstellung wiederholt geändert und die internationale Gemeinschaft irregeführt. In über 30 Treffen, initiiert von den Vereinigten Staaten, mit russischen Vertretern auf höchster Regierungsebene präsentierten sie der russischen Seite technische Informationen über die SSC-8-Rakete.

Moskau präsentiert sich als Sündenbock

Russlands Präsident Wladimir Putin stellte noch im Dezember klar, man sei gegen die Zerstörung dieses Vertrags, doch Washington habe bereits beschlossen, den INF-Vertrag aufzukündigen und einen Betrag für die Entwicklung von Raketen vorgesehen, die vertragswidrig seien. Die Vereinigten Staaten würden Russland als Sündenbock für das mögliche Ende des INF-Atomwaffenabkommens machen, sagte Putin. Mit der Warnung vor einem vollständigen Zusammenbruch der Atomwaffenkontrolle reichte die russische Mission der Vereinten Nationen noch im Dezember einen Resolutionsentwurf ein und forderte zur Aufrechterhaltung des INF-Vertrags entgegen des angedrohten US-Ausstiegs auf. Die Forderung zur Vernichtung seines Raketensystems lehnt Moskau weiterhin ab und bestreitet dessen Nuklearfähigkeit.

Im Januar präsentierte das russische Verteidigungsministerium die den NATO-Russland-Konflikt befeuernde SSC-8-Rakete auf einer Militär-Austellung nahe ihres Raketenstarters in Kuhinka bei Moskau: Sie habe lediglich eine maximale Reichweite von 480 km und verstoße somit nicht gegen den INF-Vertrag, war die Botschaft von Mikhail Matveyevsky, Russlands Militär-Kommandant der Raketen- und Artilleriekräfte. Zahlreiche westliche Diplomaten lehnten die Teilnahme an der Veranstaltung ab.

NATO-Vertreter wiesen die Darstellung erneut zurück und kritisierten die mangelnde Transparenz in der Überprüfbarkeit, da allein die „statische Anzeige“ keinen Hinweis auf ihre Flugentfernung gebe – es sei „reine Show“.

Hintergrund: Der Atomwaffenvertrag aus der Ära des Kalten Krieges ist ein wichtiges Rüstungskontrollabkommen, das seit über 30 Jahren die euro-atlantische Sicherheit garantiert. Er wurde 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnet, als Russland der Sowjetunion angehörte. Die USA forderten erneut den Rückzug von Russlands mobilem Marschflugkörpersystem, da sich Washington sonst nicht mehr an die Verpflichtungen des Atomabkommens gebunden sieht.

AFP/AP/Reuters/RFE/RL

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Krise zwischen NATO und Moskau – Gefährdeter INF-Vertrag und Konfrontation im Asowschen Meer