Von Kriegsministern und dem Kampf um Werte – Ohne Garantie

Von Michelle Eickmeier

„Das große Puzzle: Wer fügt die Puzzleteile wieder zusammen?“ – so zynisch lautete das nahezu kindlich-naiv anmutende Motto der 55. Münchner Sicherheitskonferenz, das ebenso gut hätte heißen können „Ist die Welt noch zu retten?“, oder besser „Wer rettet jetzt die Welt?“. In dieser Mission bieten sich gleich mehrere Weltmächte die Stirn, allen voran die USA.

Die Vereinigten Staaten als „Führer der freien Welt“ führten wieder einmal auf der Weltbühne, wenn man US-Vizepräsident Mike Pence in seiner Lobeshymne auf US-Präsident Donald Trump glauben mag. Aber natürlich geht es in erster Linie um den stetig beschworenen Zusammenhalt der Allianz, des transatlantischen Bündnisses, kurz der NATO. Und den Europas – natürlich. Dabei geht es vor allem um die Verteidigung von Werten, so zwischen Multilateralismus, Nationalismus und Unilateralismus. „Interessen und Werte, beides muss uns als NATO-Verbündete leiten“, sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Dies müssen sich die Bündnispartner aber erst einmal verdienen, und zwar durch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben bis 2024 – angesprochen fühlen soll sich vor allem Deutschland – und die Aufgabe des Gasprojektes Nord Stream 2 – gemeint ist wieder Deutschland. Denn dies gibt Pence Deutschland zu Bedenken:

„Wir können die Sicherheit unserer Verbündeten im Westen nicht garantieren, solange sie vom Osten abhängig sind.“

Soviel zur Kritik an den deutsch-russischen Beziehungen, von einer US-Regierung, deren Präsident heute nicht weniger als gestern knietief in der Russland-Affäre steckt.

Die USA dankten allen europäischen Partnern, die sich ganz klar gegen Nord Stream 2 positioniert hätten und wollten auch, dass andere Länder sich so positionieren, legte Pence nach, der offen bekennt, die USA wollten zum weltweit größten Öl- und Gasproduzenten werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel konterte, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas hänge nicht davon ab, ob die Gas-Pipeline gebaut werde oder nicht.

„Ein russisches Gasmolekül bleibt ein russisches Gasmolekül, egal, ob es über die Ukraine kommt oder ob es über die Ostsee kommt.“

Dabei ist bereits ein ganz anderes Rohr als die Gas-Pipeline auf Europa gerichtet, zumindest theoretisch – das russische Raketensystem SSC-8, das nach dem Austritt der USA aus dem INF-Vertrag eine ganz neue Dimension der Sicherheitsarchitektur für Europa bedeutet.

Addiert man die US-amerikanischen Ansprüche an Deutschland mit dem kürzlich aufgekündigten INF-Vertrag auf, macht das nicht im Geringsten den Anschein eines neuen Kalten Krieges, der sich wie eine Mauer des Anti-Multilateralismus mitten durch Europa ziehen soll.

Doch die europäischen NATO-Verbündeten brauchen sich nicht zu sorgen, denn Trump habe NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg unmittelbar nach seinem Antritt als US-Präsident gesagt, er habe immer gesagt, dass die NATO obsolet sei, aber die NATO sei nicht mehr obsolet.

Auch Russland hat kein Interesse an einem neuen Kalten Krieg, denn das Raketensystem ist nicht so gefährlich wie es aussieht, da es nicht gegen den INF-Vertrag verstoße, wie es Moskau entgegen der erdrückenden Beweislage der USA und der Einigkeit aller NATO-Mitglieder in diesem Punkt verlauten lässt.

Hier erinnerte Stoltenberg nebenbei an die berüchtigte Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin:

„Es war genau auf dieser Bühne auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, als Präsident Putin erstmals öffentlich den Wunsch für Russland geäußert hatte, den INF-Vertrag zu verlassen.“

In Europa kann man auf die Verteidigung  des US-Bündnispartners auf der anderen Seite des großen Teichs, der führenden freien Welt zählen. Die Ansprache des früheren US-Vizepräsidenten Joe Biden wirkte im Kontrast zur Rede von Pence wie ein Tranquilizer im Glauben an das „Andere“, alte Amerika, das völlig bedingungslos zu seinen europäischen Bündnispartnern hält. Doch Tatsachen sind es noch immer, die zählen, wenn man sich des Vertrauens des Partners versichern will: Als neu gewonnene militärische Abschreckung und Verteidigung kommt die multinationale Eingreiftruppe im Baltikum und Polen zum Einsatz und die kanadischen und amerikanischen Truppen in Europa, wobei die NATO-Einsatzkräfte in den letzten Jahren auf rund 40.000 Soldaten verdreifacht wurden. Mit dem Anstieg  der US-Streitkräfte in Europa versichert Stoltenberg die Bündnistreue der USA. Die NATO setzt die größte Verstärkung ihrer kollektiven Verteidigung seit dem Ende des Kalten Krieges als Reaktion auf die verstärkte Präsenz Russlands im Norden, im Baltikum, im Schwarzen Meer und auch im Mittelmeer ein.

Und letztendlich garantiert Artikel fünf des Nordatlantikvertrags für die Sicherheit Europas Bündnispartner, so wie beim einzigen ausgerufenen Bündnisfall in der Geschichte der NATO, dem 11. September.

USA:  „Neue militärische und wirtschaftliche Stärke“

Bis 2024 würden die USA erwarten, dass alle Bündnispartner 20 Prozent der Verteidigungsausgaben in Beschaffung investierten, wiederholte Pence die Forderung Trumps. In der Erklärung der Staats- und Regierungschefs wurde die Deadline bis 2024 angesetzt, dass bis dahin etwa zwei Drittel der Verbündeten nationale Pläne umzusetzen haben, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihre Verteidigung auszugeben. Bereits auf dem NATO-Gipfel in Brüssel vergangenen Jahres sorgte Trumps Äußerung, die USA sollen Deutschland beschützen, aber Deutschland beziehe seine Energie durch Erdgas von Russland, für eine leichte Erschütterung innerhalb der Allianz, da es innerhalb des  transatlantischen Bündnis keine Unterscheidung zwischen voll- oder minderwertigen NATO-Mitgliedern gibt.

Nach den zuletzt vorgelegten offiziellen Zahlen zu den Verteidigungsausgaben konnte die Bundesrepublik unverändert lediglich 1,24 Prozent seines BIP für Verteidigungsausgaben erreichen und kommt dem Zwei-Prozent-Ziel somit nicht näher. Jedoch ist erkennbar, dass die Verteidigungsausgaben Deutschlands kontinuierlich ansteigen. Die Verteidigungsausgaben, die nach der Annexion der Krim bei allen Verbündeten rasant anstiegen, seien die höchsten seit dem Ende des Kalten Krieges, so Stoltenberg. Die Quote der USA, die mit rund 600 Milliarden US-Dollar insgesamt die mit Abstand höchste ist (Zahlen bis 2017, Quelle: Munich Security Report 2019), war hingegen seit 2010 leicht gesunken und lag 2018 bei 3,5 Prozent.

Pence unterstrich, die USA erhöhten ihre Finanzmittel für die US-Präsenz in Europa seit dem Amtsantritt Trumps um 40 Prozent und ergriffen Maßnahmen, um die stärksten Streitkräfte in der Geschichte der Welt noch stärker zu machen. Trump habe die größte Investition in die nationale Verteidigung seit Ronald Reagan veranlasst, die Modernisierung seines Nukleararsenals und eine neue Strategie der Raketenabwehr.

Mit Blick auf die geforderten Verteidigungsausgaben stellte Außenminister Heiko Maas klar:

„Sicherheit bemisst sich für uns nicht allein im wachsenden Verteidigungsbudget.“

Zudem hob Maas die Rolle eines handlungsfähigen Europas hervor, dass nicht bloß als „Objekt globaler Politik“ zu sehen sei.

Lawrow: EU obsolet

Ob es ein Freudscher Versprecher oder Kalkül war, wer weiß das schon – nachdem der russische Außenminister Sergej Lawrow den britischen Verteidigungsminister Gavin Williamson irrtümlich mit Kriegsminister betitelte, sparte er nicht mit Kritik an der EU. Eine bedeutende Rolle spricht Lawrow der EU gänzlich ab: Praktisch gesehen verfüge die EU über keine Monopolstellung mehr bei der Gestaltung der gesamtregionalen Integration, sagte er. „Die Europäer haben sich in eine sinnlose Rivalität mit Russland hineinziehen lassen. Durch die Sanktionen aus Übersee haben sie milliardenschwere Verluste eingebüßt.“ Lawrow kritisierte die NATO-Ost-Erweiterung und die Unterstützung der EU für die Ukraine. 

Mogherini: Iran-Abkommen ohne EU obsolet

Federica Mogherini, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik machte deutlich, wie stark die EU als Akteur auf der Weltbühne in Wahrheit ist, indem sie den gegenwärtigen Fortbestand des Iran-Abkommens ohne den EU-Einsatz, gefolgt von ihren Mitgliedsstaaten Frankreich, Deutschland und Großbritannien, in Frage stellte. „Das Abkommen wäre schon längst im Mai letzten Jahres beendet“, sagte Mogherini. Wenn die EU ihre Kräfte vereine, dann sei sie eine große Macht, wirtschaftlich und auch im Bereich Sicherheit. Es stehe in den EU-Verträgen, dass die NATO der Pfeiler für die Bündnisverteidigung sei. Ein in der Verteidigung gestärktes Europa sei eine Möglichkeit, die NATO zu stärken, ohne Konkurrenz und Wettbewerb. Der US-Rückzug aus dem Iran-Abkommen allerdings habe sie durch sekundäre Sanktionen durch die USA in der wirtschaftlichen Unabhängigkeit beschränkt.


Auch Maas unterstrich, ohne das Iran-Abkommen wäre die Region einen Schritt näher an einer offenen Konfrontation mit allen Auswirkungen, die das für die Sicherheitslage in Europa hätte, und warnte vor einer militärisch genutzten Urananreicherung für den Fall, dass der Iran aus dem Abkommen herausgetrieben werde.

Kürzlich stellte der Iran anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten der Islamischen Revolution von 1979 seine neue Langstreckenrakete mit einer Reichweite von 1.300 km vor.

Reuters
Ende der Rüstungskontrolle? – Ultimatum zur Rettung des INF-Vertrags abgelaufen