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Emmanuel Macron: „Wir brauchen eine europäische Strategie“

Von Michelle Eickmeier

„Westlessness“, war das diesjährige Motto der Münchner Sicherheitskonferenz. Ein ebenfalls passender, wenngleich stärker apokalyptisch anmutender Slogan wäre beispielsweise einer der folgenden gewesen: „Die nukleare Verunsicherung“, oder „Zeitalter nuklearer (Un-)sicherheit.“ Schließlich schätzt der Münchner Sicherheitsreport die Chance einer Verlängerung des Rüstungskontrollvertrages New-START (Strategic Arms Reduction Treaty) zwischen den USA und Russland als unwahrscheinlich ein. Abkommen und Verträge scheinen einer nostalgischen Vergangenheit anzugehören. Die Gefahr eines neuen Wettrüstens, die zusätzlich durch die Konflikte mit Indien, dem Iran, Nordkorea sowie Pakistan angeheizt wird, ist real geworden. Neue militärische Schauplätze des Wettrüstens wie der Weltraum und der Cyberraum sind hinzugekommen.

Globale Militärausgaben seien heute höher als in der Zeit des späten Kalten Krieges, greift der Report auf. Neue Wege im Bereich der Rüstungskontrolle und Transparenz seien erforderlich, im Bereich Weltraum, künstlicher Intelligenz oder Technologie.

„Stunde der Wahrheit“ für Europa

„Ich glaube, wir stehen wirklich vor einer Stunde der Wahrheit in Europa“, gab  Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu Bedenken. Als Mittel der Wahl will er mehr Handlungsfreiheit für Europa erreichen, eine eigene Strategie, auch gegenüber Russland und der aufstrebenden Macht China sowie im Mittelmeer. Dies sei nicht nur eine Frage transatlantischer Politik, sondern europäischer Politik. Europa benötige mehr Einigkeit, eine vitalere Demokratie, mehr Klimaschutz, eine bessere Sicherung der Grenzen.

„Ich bin überzeugt davon, dass wir ein stärkeres Europa der Verteidigung brauchen“, sagte Macron weiter, für den Glaubwürdigkeit und Handlungsspielraum in der Außenpolitik zusammengehörten.

„Wir stellen eine gewisse Schwäche des Westens fest“, die Werte hätten sich verändert, und Europa brauche „eine Strategie die es uns erlaubt uns, wieder als strategisch politische Macht zu begreifen, sagte Macron, der sich auch ganz hinter die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Kritik an China, Russland und den USA stellte. Macron prognostizierte weitere aggressive Destabilisierungsversuche Russlands gegenüber westlichen Demokratien, womit er auf die Hybrid-Taktiken Russlands anspielt.

„Wir brauchen im Herzen Europas mehr Gemeinsamkeit“

In seinen genannten Schlüsselbegriffen hinsichtlich der erzielten Handlungsfreiheit wie „Souveränität, Einigkeit und Demokratie“ klingen die verwandt, historisch-politischen Errungenschaften der Französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wieder – eines des größten Erbes europäischer Geschichte.

NATO-Grundwerte: „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit“

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte die bereits bekannten Positionen der NATO gegenüber Russland sowie ihre Solidarität gegenüber der Ukraine als Partner erneut, und sprach sich für die Aufrechterhaltung von Sanktionen aus. Gleichzeitig setzt er auf einen Dialog mit Russland und dem Streben nach besseren Beziehungen zu „unserem größten Nachbarn.“ Die Präsenz der USA in Europa und europäischer Alliierter nähme zu, und das Schwarze Meer sei von strategischer Bedeutung für die NATO, indem die NATO ihre Präsenz durch mehr Luftstreitkräfte, auf See und an Land verstärkt habe.

Stoltenberg betonte, alle Alliierten blieben der Rüstungskontrolle verpflichtet, trotz des aufgekündigten INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces). Die USA hatten festgestellt, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstoßen habe, indem es eine neue bodengestützte Mittelstreckenrakete mittlerer Geschwindigkeit entwickelt und getestet habe. Russland bestreitet diesen Vorwurf. Der INF-Vertrag war eine wesentliche Säule europäischer Sicherheit, und sah die Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern vor.

Die nukleare (Un-)sicherheit

Gleichzeitig stellten sich alle NATO-Verbündeten hinter die Entscheidung der USA, den INF-Vertrag annulliert zu haben, da sich alle Alliierten über den Verstoß seitens Russlands einig seien. Man wolle aber keine neuen landgestützten Atomraketen in Europa einsetzen, sondern andere Dinge im Zusammenhang mit konventionellen Luft- und Raketenabwehrübungen.

INF – Nicht alle Herausforderungen abgedeckt

Mit Blick auf den ad acta gelegten INF-Vertrag, bemerkte Camille Grand, der Stellvertretende NATO-Generalsekretär für Verteidigungsinvestitionen, dass der INF-Vertrag nicht alle Herausforderungen abgedeckt habe. Er bezog keine anderen Staaten, wie Nordkorea oder den Iran, die im Besitz von Raketen mit mittlerer Reichweite seien, mit ein. Grand warnte davor, dass Demokratien auf Abrüstung setzen, während anti-demokratische Staaten weiterhin aufrüsten. Die bilateralen Vereinbarungen des Kalten Krieges beantworte nicht alle gegenwärtigen strategischen Herausforderungen.

NATO
Camille Grand (NATO). Bildquelle: MSC / Kuhlmann.

Auf die Frage der nuklearen Sicherheit, sagte Stoltenberg, dass man bereits seit Jahrzehnten eine bewährte europäische Abschreckung habe, es sei die ultimative Sicherheitsgarantie für Europa, und gleichzeitig „die nukleare Abschreckung der NATO“, die institutionalisiert sei. Die französische nukleare Abschreckung trage zur allgemeinen Sicherheit der NATO bei.

„Wir sind auch der Konkurrenz durch ein sich veränderndes globales Kräfteverhältnis ausgesetzt“, bemerkte Stoltenberg mit Blick auf China, das bald die größte Volkswirtschaft der Welt sein werde, und bereits jetzt über das zweitgrößte Verteidigungsbudget der Welt verfüge. Was dies letztlich für die transatlantische Sicherheit, „für Freiheit und Demokratie“ bedeute, dahinter setzte Stoltenberg ein Fragezeichen.

In einem Zusammentreffen mit dem chinesischen Außenminister habe Stoltenberg klargemacht, dass die NATO ein Bündnis sei, das auf Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und individueller Freiheit basiere.

Nukleare Experimentierfreude – Oder vielleicht etwas anderes?

Was bei der NATO schwammig als „andere Dinge“ formuliert wurde, nennt sich bei Vladimir Putin „oder vielleicht etwas anderes.“ Hauptsache ein Gegengift vor zu viel nuklearer Power des jeweils anderen wird gefunden. So ist sich Russlands Präsident Wladimir Putin noch nicht sicher, ob der nukleare Status in die Verfassung aufgenommen werden sollte – neben seinen anderen jüngsten Verfassungsreformen. Schließlich sei klar, dass man eine Atommacht sei.

„Entscheidend ist, dass wir mit den neuesten Waffensystemen immer einen Schritt voraus sind. Diese Systeme müssen jedoch nicht unbedingt nuklear sein. Es könnten Waffen sein, die auf neuen physikalischen Prinzipien basieren, oder vielleicht etwas anderes, über das wir jetzt nicht diskutieren könnten, an dem aber unsere Wissenschaftler und unsere Industrie arbeiten“, sagte Putin.

Der nukleare Status habe aufgrund sich neu entwickelnder Technologien keinen Ewigkeitswert. Bei einem Treffen mit der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Verfassungsvorschlägen sagte Putin in Anspielung auf die USA:

„Zum Beispiel wurde das Ihnen bekannte Raketenabwehrsystem mit dem Ziel entwickelt, unser nukleares Potenzial zu deaktivieren und unbrauchbar zu machen. Aber nachdem wir Hyperschallwaffen entwickelt hatten, wurden ihre Versuche, dies zu tun, sinnlos. Ihre Ausgaben, die Milliarden betrugen, wurden zu einer Verschwendung.“

Sergej Lawrow kritisiert NATO und EU

Der russische Außenminister Sergej Lawrow äußerte sich unmissverständlich scharf in seiner Kritik gegenüber dem NATO-Russland-Rat, dem er eine Monologhaltung vorwirft: „Im Großen und Ganzen steckt Leere hinter all ihren Gesprächen, die die NATO mit uns zum Dialog über Rüstungskontrolle, Transparenzmaßnahmen oder Vertrauensbildung geführt hat“, sagte er.

Hier wird sehr deutlich, dass die Divergenzen hinsichtlich des Krieges in der Ost-Ukraine sowie der Annexion der Krim durch Russland, die von der NATO als völkerrechtswidrig beurteilt wird, alle Annäherungsversuche ersticken. Der Ukraine-Konflikt bewirkt eine allgegenwärtige Hemmung jeglicher Konsultationen mit Russland. Wenn Lawrow sagt, die NATO erwarte, dass die Ukraine mit offenen Armen dem Bündnis beitrete, lässt er unberücksichtigt, dass die Ukraine in ihren Entscheidungen ein völkerrechtlich souveräner Staat ist, und die NATO aktiv keine Nation dazu motiviert dem Bündnis beizutreten, sondern die Ukraine als „Partner“ betitelt. Indizien für einen vorgesehenen NATO-Beitritt der Ukraine gibt es derzeit schlicht nicht. Russland aus seiner Perspektive trägt der NATO dessen zugesicherte Solidarität gegenüber der Ukraine nach. Lawrow bemerkt, dass die NATO nichts mit der Ukraine zu tun habe. Die Perspektive der vom Krieg getroffenen und geschädigten Ukraine hat Moskau nicht im Blick.

Münchner Sicherheitskonferenz.
NATO-Russland-Treffen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Image source: NATO.

Einzige Hoffnung zu einem Ausweg und Dialog mit Russland, machen daher die Gespräche im Normandie-Format.

Lawrow beurteilt die Initiative Macrons als positiv – Frankreich zeige echte politische und geopolitische Vision, Pragmatismus und Bereitschaft zum Dialog und der Suche nach Lösungen, so Lawrow.

Sergej Lawrow
Der russische Außenminister Sergej Lawrow  und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Image source: NATO.
Sergej Lawrow und Jens Stoltenberg
Sergej Lawrow und Jens Stoltenberg. Image source: NATO.

Auch hinsichtlich der EU hält sich Lawrow nicht in Kritik zurück. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Stampa, kritisierte er die EU scharf, indem sie noch immer in absurder Weise die Aussichten für eine Kooperation mit der internen ukrainischen Schlichtung verbinde.

Weiterhin sagte Lawrow:

„Wir hoffen, dass die neuen Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission auch erkennen werden, dass dieser bösartige Status quo nicht mit dem ehrgeizigen Ziel vereinbar ist, die EU zu einem geostrategischen Akteur der Spitzenklasse zu machen.“

Humanitäre Katastrophe Syriens

In der Unterstützung des Assad-Regimes durch Moskau im Syrienkrieg beruft sich Lawrow mit Verweis auf die in der UN-Resolution 2254 des Weltsicherheitsrates garantierten Souveränität und territorialen Integrität der Arabischen Republik Syriens. Dieser Argumentation fehlt es an glaubwürdiger Substanz, wenn sich einzig der Westen solidarisch gegenüber der Souveränität der Ukraine, insbesondere der Krim zeigt. Diese Destabilisierung begreift der Westen als ernstzunehmende Sicherheitsherausforderung und Bedrohung des Friedens vor der Haustüre Europas. Zerstörung und Wiederaufbau sind die Ziele der syrischen Regierung, was Moskau unterstützt – auf dem Rücken der syrischen Zivilbevölkerung und den Gräbern von über 380.000 Todesopfern, laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Wolodymyr Selenskyj: „Dies ist ein Krieg in Europa“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab zu Bedenken, es sei nicht richtig vom „Krieg in der Ukraine“ zu sprechen: „Dies ist ein Krieg in Europa“, betonte er.

Selenskyj sprach sich für einen Waffenstillstand in der Ostukraine aus, wie es in Paris vereinbart und durch die trilaterale Kontaktgruppe gebilligt wurde. Jedoch seien in den letzten zwei Monaten mehr als 400 Fälle von Beschuss auf ukrainische Stellungen zu verzeichnen. Selenskyj lobte die wirksame Arbeit des OSZE-SMM als eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des Sicherheitspakets des Minsker Abkommens.

Volodymyr Zelensky
Ukrainian president Volodymyr Zelensky. Image source: MSC / Kuhlmann

Angesichts der geplanten Kommunalwahlen im Oktober in der gesamten Ukraine, einschließlich bestimmter Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk, plädiert Selenskyj auf eine Durchführung nach ukrainischem Recht, die international als legitim anerkannt werde. Auf der Krim sei dies ohne grundlegende Sicherheits- und politische Bedingungen unmöglich, was gegen die Verfassung der Ukraine und die internationalen Standards demokratischer Wahlen verstoße. Erschwert sei dies zudem durch die Tatsache, dass im vergangenen Jahr in den vorübergehend unkontrollierten Teilen von Donbass 125.000 russische Pässe ausgestellt worden seien, so Selenskyj.

Die Sicherheitsarchitektur Europas müsse ausschließlich auf den Normen und Grundsätzen des Völkerrechts beruhen, die in der Charta der Vereinten Nationen, der Schlussakte von Helsinki und den internationalen Verträgen verankert seien, so der ukrainische Präsident.

„Es ist Zeit zu erkennen, dass wir in einer Welt leben, in der es keinen Krieg mehr eines anderen, und keine Katastrophe eines anderen mehr gibt“, sagte Zelenskyy. – Genau das meinte der damalige Medientheoretiker Marshall McLuhan mit seiner weltbekannten These vom „global village“ („globales Dorf“). Nein, die Welt ist zu einem globalen Dorf zusammengeschrumpft und trägt gemeinsame Verantwortung.

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Ende der Rüstungskontrolle? – Ultimatum zur Rettung des Atomwaffenvertrages abgelaufen 

Von Michelle Eickmeier

Das Ultimatum der USA an Russland, den INF-Vertrag zu erfüllen, ist nun nach 60 Tagen abgelaufen. Die USA hatten angekündigt, aus dem Atomwaffenvertrag auszusteigen, sollte Russland nicht sein nuklearfähiges Raketensystem 9M729 zurückziehen. Im Raum steht die Angst vor einem neuen Wettrüsten zwischen den Vereinigten Staaten und Russland in Europa sowie auf asiatisch-pazifischem Terrain, vor dem Beobachter warnen. Steht die Rüstungskontrolle jetzt vor dem Aus?

Die Positionen der NATO-Verbündeten und Russlands kämen grundsätzlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner, stellte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch im Januar auf einer Pressekonferenz im Anschluss an den NATO-Russland-Rat (NRC) fest. Dabei ging es neben dem Krieg in der Ostukraine vor allem um den drohenden Austritt der Vereinigten Staaten aus dem INF-Vertrag über nukleare Streitkräfte (Intermediate Range Nuclear Forces), der das Verbot und die Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis zu 5.500 Kilometern vorsieht.

Bereits in der von den NATO-Außenministern herausgegebenen Erklärung vom Dezember vergangenen Jahres wird Russland die Entwicklung und der Einsatz des Raketensystems 9M729 (NATO-Code SSC-8) vorgeworfen, der gegen den INF-Vertrag verstoße. Diese Raketen seien besonders gefährlich, weil sie schwer zu lokalisieren, mobil und nuklearfähig seien und zudem die Warnzeit verkürzen. Sie könnten europäische Städte erreichen und daher auch die Schwelle für einen möglichen Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Konfliktes in Europa senken, sagte Stoltenberg im Dezember. 

60-Tage-Ultimatum abgelaufen

Die USA hatten Moskau ein 60-Tage-Utimatum gestellt, um zur Einhaltung der Vorschriften zurückzukehren. Allerdings habe Russland nun, da das Ultimatum der USA ausgelaufen ist, noch sechs Monate Gelegenheit, die Vorschriften des INF-Vertrags zu erfüllen, bis der Austrittsprozess der USA aus dem Atomwaffenabkommen des Kalten Krieges vollständig abgeschlossen sei. US-Außenminister Mike Pompeo gab den INF-Rücktritt mit Wirkung zum 2. Februar bereits am Freitag bekannt und kündigte eine offizielle Mitteilung an Moskau an. Sollte Russland keine Schritte in Richtung glaubwürdiger Rüstungskontrolle unternehmen, werde der Vertrag aufgekündigt. Wenige Stunden zuvor gab der Nordatlantikrat, das wichtigste Entscheidungsgremium der NATO, eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie der US-Rücktrittsmitteilung ihre volle Solidarität zuerkannte.

„Ein Vertrag, zu dem zwei Vertragsstaaten gehören und der von einer Seite verletzt wurde, ist de facto ungültig“, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas am Rande eines EU-Außenminister-Treffens in Bukarest.

Über die Motive, warum Russland diese neuen Raketen entwickle und einsetze, könne man nur vorsichtig spekulieren, so Stoltenberg. Verschiedene politische und militärische Verantwortliche, darunter auch Russlands Präsident Wladimir Putin, hätten mehrmals öffentlich ihre Bedenken hinsichtlich des INF-Vertrags bekundet, da dieser ihrer Ansicht nach ihre Reaktionsfähigkeiten angesichts der ansteigenden Entwicklung von Waffen mittlerer Reichweite in Ländern wie China, Indien, Pakistan, Iran und auch Nordkorea beschränke. Aber auch US-Vertreter hatten sich besorgt über ihre Vertragsbindung geäußert, da China, das nicht an den Vertrag gebunden ist, eine Vielzahl von Raketen einsetze.

„Sie haben sich daher bereits besorgt über den Vertrag geäußert, und ich denke, das ist der Hauptgrund, warum sie jetzt auch gegen den Vertrag verstoßen“, sagte Stoltenberg.

Gleichzeitig räumte er ein, dass in den 1980er Jahren nahezu ausschließlich die USA und die Sowjetunion im Besitz von Raketen- oder Waffensystemen mittlerer Reichweite waren, während diese Art von Waffensystemen heute von China, Indien, Pakistan, dem Iran und auch Nordkorea entwickelt werde.

Einige NATO-Vertreter werten Russlands Raketensystem, das sich einfach verstecken lasse, als gezielte Abwehr gegen chinesische Raketenprogramme, was jedoch nicht dessen Einsatz rechtfertige.

Stoltenberg: Russland will ablenken

Umgekehrt beschuldigt Russland die USA, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Gemeint ist das US-Raketenabwehrsystem Mk-41, eine Senkrechtstartanlage für Flugkörper im Meer, stationiert in Polen und Rumänien, das mehrere Raketen abfeuern könne, so auch die Tomahawk-Marschflugkörper, eine Waffe, die vom INF-Abkommen verboten sei, wenn sie auf einem bodengestützten Werfer eingesetzt werden würde, lautet der Vorwurf Moskaus. Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow spricht von Vertragsbruch der USA. Die NATO behauptet, das Raketenabwehrsystem solle Raketen aus dem Iran, nicht aus der Russischen Föderation abschießen.  Zudem beschuldigt Russland das Vorhaben der USA ein Raketenabwehrsystem im Weltraum einzusetzen.

Die NATO sieht jedoch keinen Verstoß gegen den INF-Vertrag – Russland wolle damit vom eigentlichen Problem ablenken: „Es gibt keine neuen US-Raketen in Europa, aber neue russische Raketen in Europa“, unterstrich Stoltenberg. Die NATO-Verbündeten appellieren weiterhin an Russland, den INF-Vertrag durch vollständige Einhaltung der Vorschriften zu wahren. Oberste Priorität ist die Rettung des INF-Vertrags, bevor über mögliche Schritte spekuliert werden könne, machte Stoltenberg deutlich, dem es vor allem um Zurückhaltung und  Deeskalation geht. Die NATO forderte Russland bereits auf dem Gipfeltreffen in Wales im Jahr 2014 zur vollständigen und überprüfbaren Einhaltung des Abkommens auf.

„Der INF-Vertrag ist ein Eckpfeiler für die Rüstungskontrolle für unsere Sicherheit“, sagte Stoltenberg auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Der potenzielle Zusammenbruch des INF-Vertrags sei derzeit die dringlichste Herausforderung der NATO.

Zukunft der Rüstungskontrolle offen

Mit dem angedrohten Austritt der USA aus dem INF-Vertrag sind 30 Jahre Rüstungskontrolle und Stabilität gefährdet. Im Umgang mit Russland verfolgt die NATO einen dualen Ansatz. Zum Einen will sie sich weiterhin für den Prozess der Rüstungskontrolle einsetzen, gleichzeitig verfolgt sie auch eine militärische Strategie der Abschreckung und Verteidigung. Man werde jedoch nicht notwendigerweise Eins zu Eins das Vorgehen Russlands spiegeln. So begrüßte Stoltenberg die Initiative von Heiko Maas, eine Konferenz in Berlin einzuberufen, um neue Initiativen zur Rüstungskontrolle zu prüfen.

„Ich habe mit meinem russischen Kollegen darüber gesprochen und ihnen gesagt, dass wir darauf setzen, dass Russland seine Vertragsverletzungen korrigiert und seine Marschflugkörper entwaffnet, damit der INF-Vertrag noch eine Chance hat“, sagte Maas, der sich für die Rettung des INF-Abkommens einsetzt.

Ein weiterer Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA, der New-START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty), seit dem 5. Februar 2011 in Kraft, läuft 2021 aus. Dieser begrenzt die Anzahl der eingesetzten nuklearen Sprengköpfe auf 1.550. Auf der jährlichen Pressekonferenz im Dezember äußerte sich Putin besorgt über die Zukunft des New-START-Abkommens und kritisierte das mangelnde Interesse der USA. Ein U.S.-Vertreter sagte, die U.S.-Regierung wäge ab, ob New-START um fünf Jahre verlängert werden müsse.

„Es werden noch keine Gespräche über die Erweiterung geführt. Haben die Amerikaner kein Interesse, brauchen sie sie nicht?“, fragte Putin. Für die Menschheit sei das sehr schlecht, da man sich einer gefährlichen Schwelle nähere, gab er zu Bedenken.

INF-Vertrag: Washington drängt Moskau seit Jahren zur Vertragsverpflichtung

Seit 2013 äußern die Vereinigten Staaten Bedenken gegenüber Russland bezüglich der Entwicklung und Tests Russlands neuer bodengestützter Mittelstreckenrakete und sollen vergeblich versucht haben, glaubwürdige Antworten zu dem neuen Raketensystem und Beweise zur Einhaltung des INF-Abkommens von Russland  zu erhalten. Russland habe seine Darstellung wiederholt geändert und die internationale Gemeinschaft irregeführt. In über 30 Treffen, initiiert von den Vereinigten Staaten, mit russischen Vertretern auf höchster Regierungsebene präsentierten sie der russischen Seite technische Informationen über die SSC-8-Rakete.

Moskau präsentiert sich als Sündenbock

Russlands Präsident Wladimir Putin stellte noch im Dezember klar, man sei gegen die Zerstörung dieses Vertrags, doch Washington habe bereits beschlossen, den INF-Vertrag aufzukündigen und einen Betrag für die Entwicklung von Raketen vorgesehen, die vertragswidrig seien. Die Vereinigten Staaten würden Russland als Sündenbock für das mögliche Ende des INF-Atomwaffenabkommens machen, sagte Putin. Mit der Warnung vor einem vollständigen Zusammenbruch der Atomwaffenkontrolle reichte die russische Mission der Vereinten Nationen noch im Dezember einen Resolutionsentwurf ein und forderte zur Aufrechterhaltung des INF-Vertrags entgegen des angedrohten US-Ausstiegs auf. Die Forderung zur Vernichtung seines Raketensystems lehnt Moskau weiterhin ab und bestreitet dessen Nuklearfähigkeit.

Im Januar präsentierte das russische Verteidigungsministerium die den NATO-Russland-Konflikt befeuernde SSC-8-Rakete auf einer Militär-Austellung nahe ihres Raketenstarters in Kuhinka bei Moskau: Sie habe lediglich eine maximale Reichweite von 480 km und verstoße somit nicht gegen den INF-Vertrag, war die Botschaft von Mikhail Matveyevsky, Russlands Militär-Kommandant der Raketen- und Artilleriekräfte. Zahlreiche westliche Diplomaten lehnten die Teilnahme an der Veranstaltung ab.

NATO-Vertreter wiesen die Darstellung erneut zurück und kritisierten die mangelnde Transparenz in der Überprüfbarkeit, da allein die „statische Anzeige“ keinen Hinweis auf ihre Flugentfernung gebe – es sei „reine Show“.

Hintergrund: Der Atomwaffenvertrag aus der Ära des Kalten Krieges ist ein wichtiges Rüstungskontrollabkommen, das seit über 30 Jahren die euro-atlantische Sicherheit garantiert. Er wurde 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnet, als Russland der Sowjetunion angehörte. Die USA forderten erneut den Rückzug von Russlands mobilem Marschflugkörpersystem, da sich Washington sonst nicht mehr an die Verpflichtungen des Atomabkommens gebunden sieht.

AFP/AP/Reuters/RFE/RL

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Krise zwischen NATO und Moskau – Gefährdeter INF-Vertrag und Konfrontation im Asowschen Meer