Von Michelle Eickmeier
„Westlessness“, war das diesjährige Motto der Münchner Sicherheitskonferenz. Ein ebenfalls passender, wenngleich stärker apokalyptisch anmutender Slogan wäre beispielsweise einer der folgenden gewesen: „Die nukleare Verunsicherung“, oder „Zeitalter nuklearer (Un-)sicherheit.“ Schließlich schätzt der Münchner Sicherheitsreport die Chance einer Verlängerung des Rüstungskontrollvertrages New-START (Strategic Arms Reduction Treaty) zwischen den USA und Russland als unwahrscheinlich ein. Abkommen und Verträge scheinen einer nostalgischen Vergangenheit anzugehören. Die Gefahr eines neuen Wettrüstens, die zusätzlich durch die Konflikte mit Indien, dem Iran, Nordkorea sowie Pakistan angeheizt wird, ist real geworden. Neue militärische Schauplätze des Wettrüstens wie der Weltraum und der Cyberraum sind hinzugekommen.
Globale Militärausgaben seien heute höher als in der Zeit des späten Kalten Krieges, greift der Report auf. Neue Wege im Bereich der Rüstungskontrolle und Transparenz seien erforderlich, im Bereich Weltraum, künstlicher Intelligenz oder Technologie.
„Stunde der Wahrheit“ für Europa
„Ich glaube, wir stehen wirklich vor einer Stunde der Wahrheit in Europa“, gab Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu Bedenken. Als Mittel der Wahl will er mehr Handlungsfreiheit für Europa erreichen, eine eigene Strategie, auch gegenüber Russland und der aufstrebenden Macht China sowie im Mittelmeer. Dies sei nicht nur eine Frage transatlantischer Politik, sondern europäischer Politik. Europa benötige mehr Einigkeit, eine vitalere Demokratie, mehr Klimaschutz, eine bessere Sicherung der Grenzen.
„Ich bin überzeugt davon, dass wir ein stärkeres Europa der Verteidigung brauchen“, sagte Macron weiter, für den Glaubwürdigkeit und Handlungsspielraum in der Außenpolitik zusammengehörten.
„Wir stellen eine gewisse Schwäche des Westens fest“, die Werte hätten sich verändert, und Europa brauche „eine Strategie die es uns erlaubt uns, wieder als strategisch politische Macht zu begreifen, sagte Macron, der sich auch ganz hinter die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Kritik an China, Russland und den USA stellte. Macron prognostizierte weitere aggressive Destabilisierungsversuche Russlands gegenüber westlichen Demokratien, womit er auf die Hybrid-Taktiken Russlands anspielt.
„Wir brauchen im Herzen Europas mehr Gemeinsamkeit“
In seinen genannten Schlüsselbegriffen hinsichtlich der erzielten Handlungsfreiheit wie „Souveränität, Einigkeit und Demokratie“ klingen die verwandt, historisch-politischen Errungenschaften der Französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wieder – eines des größten Erbes europäischer Geschichte.
NATO-Grundwerte: „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit“
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte die bereits bekannten Positionen der NATO gegenüber Russland sowie ihre Solidarität gegenüber der Ukraine als Partner erneut, und sprach sich für die Aufrechterhaltung von Sanktionen aus. Gleichzeitig setzt er auf einen Dialog mit Russland und dem Streben nach besseren Beziehungen zu „unserem größten Nachbarn.“ Die Präsenz der USA in Europa und europäischer Alliierter nähme zu, und das Schwarze Meer sei von strategischer Bedeutung für die NATO, indem die NATO ihre Präsenz durch mehr Luftstreitkräfte, auf See und an Land verstärkt habe.
Stoltenberg betonte, alle Alliierten blieben der Rüstungskontrolle verpflichtet, trotz des aufgekündigten INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces). Die USA hatten festgestellt, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstoßen habe, indem es eine neue bodengestützte Mittelstreckenrakete mittlerer Geschwindigkeit entwickelt und getestet habe. Russland bestreitet diesen Vorwurf. Der INF-Vertrag war eine wesentliche Säule europäischer Sicherheit, und sah die Vernichtung aller nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern vor.
Die nukleare (Un-)sicherheit
Gleichzeitig stellten sich alle NATO-Verbündeten hinter die Entscheidung der USA, den INF-Vertrag annulliert zu haben, da sich alle Alliierten über den Verstoß seitens Russlands einig seien. Man wolle aber keine neuen landgestützten Atomraketen in Europa einsetzen, sondern andere Dinge im Zusammenhang mit konventionellen Luft- und Raketenabwehrübungen.
INF – Nicht alle Herausforderungen abgedeckt
Mit Blick auf den ad acta gelegten INF-Vertrag, bemerkte Camille Grand, der Stellvertretende NATO-Generalsekretär für Verteidigungsinvestitionen, dass der INF-Vertrag nicht alle Herausforderungen abgedeckt habe. Er bezog keine anderen Staaten, wie Nordkorea oder den Iran, die im Besitz von Raketen mit mittlerer Reichweite seien, mit ein. Grand warnte davor, dass Demokratien auf Abrüstung setzen, während anti-demokratische Staaten weiterhin aufrüsten. Die bilateralen Vereinbarungen des Kalten Krieges beantworte nicht alle gegenwärtigen strategischen Herausforderungen.
Auf die Frage der nuklearen Sicherheit, sagte Stoltenberg, dass man bereits seit Jahrzehnten eine bewährte europäische Abschreckung habe, es sei die ultimative Sicherheitsgarantie für Europa, und gleichzeitig „die nukleare Abschreckung der NATO“, die institutionalisiert sei. Die französische nukleare Abschreckung trage zur allgemeinen Sicherheit der NATO bei.
„Wir sind auch der Konkurrenz durch ein sich veränderndes globales Kräfteverhältnis ausgesetzt“, bemerkte Stoltenberg mit Blick auf China, das bald die größte Volkswirtschaft der Welt sein werde, und bereits jetzt über das zweitgrößte Verteidigungsbudget der Welt verfüge. Was dies letztlich für die transatlantische Sicherheit, „für Freiheit und Demokratie“ bedeute, dahinter setzte Stoltenberg ein Fragezeichen.
In einem Zusammentreffen mit dem chinesischen Außenminister habe Stoltenberg klargemacht, dass die NATO ein Bündnis sei, das auf Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und individueller Freiheit basiere.
Nukleare Experimentierfreude – Oder vielleicht etwas anderes?
Was bei der NATO schwammig als „andere Dinge“ formuliert wurde, nennt sich bei Vladimir Putin „oder vielleicht etwas anderes.“ Hauptsache ein Gegengift vor zu viel nuklearer Power des jeweils anderen wird gefunden. So ist sich Russlands Präsident Wladimir Putin noch nicht sicher, ob der nukleare Status in die Verfassung aufgenommen werden sollte – neben seinen anderen jüngsten Verfassungsreformen. Schließlich sei klar, dass man eine Atommacht sei.
„Entscheidend ist, dass wir mit den neuesten Waffensystemen immer einen Schritt voraus sind. Diese Systeme müssen jedoch nicht unbedingt nuklear sein. Es könnten Waffen sein, die auf neuen physikalischen Prinzipien basieren, oder vielleicht etwas anderes, über das wir jetzt nicht diskutieren könnten, an dem aber unsere Wissenschaftler und unsere Industrie arbeiten“, sagte Putin.
Der nukleare Status habe aufgrund sich neu entwickelnder Technologien keinen Ewigkeitswert. Bei einem Treffen mit der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Verfassungsvorschlägen sagte Putin in Anspielung auf die USA:
„Zum Beispiel wurde das Ihnen bekannte Raketenabwehrsystem mit dem Ziel entwickelt, unser nukleares Potenzial zu deaktivieren und unbrauchbar zu machen. Aber nachdem wir Hyperschallwaffen entwickelt hatten, wurden ihre Versuche, dies zu tun, sinnlos. Ihre Ausgaben, die Milliarden betrugen, wurden zu einer Verschwendung.“
Sergej Lawrow kritisiert NATO und EU
Der russische Außenminister Sergej Lawrow äußerte sich unmissverständlich scharf in seiner Kritik gegenüber dem NATO-Russland-Rat, dem er eine Monologhaltung vorwirft: „Im Großen und Ganzen steckt Leere hinter all ihren Gesprächen, die die NATO mit uns zum Dialog über Rüstungskontrolle, Transparenzmaßnahmen oder Vertrauensbildung geführt hat“, sagte er.
Hier wird sehr deutlich, dass die Divergenzen hinsichtlich des Krieges in der Ost-Ukraine sowie der Annexion der Krim durch Russland, die von der NATO als völkerrechtswidrig beurteilt wird, alle Annäherungsversuche ersticken. Der Ukraine-Konflikt bewirkt eine allgegenwärtige Hemmung jeglicher Konsultationen mit Russland. Wenn Lawrow sagt, die NATO erwarte, dass die Ukraine mit offenen Armen dem Bündnis beitrete, lässt er unberücksichtigt, dass die Ukraine in ihren Entscheidungen ein völkerrechtlich souveräner Staat ist, und die NATO aktiv keine Nation dazu motiviert dem Bündnis beizutreten, sondern die Ukraine als „Partner“ betitelt. Indizien für einen vorgesehenen NATO-Beitritt der Ukraine gibt es derzeit schlicht nicht. Russland aus seiner Perspektive trägt der NATO dessen zugesicherte Solidarität gegenüber der Ukraine nach. Lawrow bemerkt, dass die NATO nichts mit der Ukraine zu tun habe. Die Perspektive der vom Krieg getroffenen und geschädigten Ukraine hat Moskau nicht im Blick.
Einzige Hoffnung zu einem Ausweg und Dialog mit Russland, machen daher die Gespräche im Normandie-Format.
Lawrow beurteilt die Initiative Macrons als positiv – Frankreich zeige echte politische und geopolitische Vision, Pragmatismus und Bereitschaft zum Dialog und der Suche nach Lösungen, so Lawrow.
Auch hinsichtlich der EU hält sich Lawrow nicht in Kritik zurück. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Stampa, kritisierte er die EU scharf, indem sie noch immer in absurder Weise die Aussichten für eine Kooperation mit der internen ukrainischen Schlichtung verbinde.
Weiterhin sagte Lawrow:
„Wir hoffen, dass die neuen Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission auch erkennen werden, dass dieser bösartige ‚Status quo‚ nicht mit dem ehrgeizigen Ziel vereinbar ist, die EU zu einem ‚geostrategischen Akteur der Spitzenklasse‚ zu machen.“
Humanitäre Katastrophe Syriens
In der Unterstützung des Assad-Regimes durch Moskau im Syrienkrieg beruft sich Lawrow mit Verweis auf die in der UN-Resolution 2254 des Weltsicherheitsrates garantierten Souveränität und territorialen Integrität der Arabischen Republik Syriens. Dieser Argumentation fehlt es an glaubwürdiger Substanz, wenn sich einzig der Westen solidarisch gegenüber der Souveränität der Ukraine, insbesondere der Krim zeigt. Diese Destabilisierung begreift der Westen als ernstzunehmende Sicherheitsherausforderung und Bedrohung des Friedens vor der Haustüre Europas. Zerstörung und Wiederaufbau sind die Ziele der syrischen Regierung, was Moskau unterstützt – auf dem Rücken der syrischen Zivilbevölkerung und den Gräbern von über 380.000 Todesopfern, laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Wolodymyr Selenskyj: „Dies ist ein Krieg in Europa“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab zu Bedenken, es sei nicht richtig vom „Krieg in der Ukraine“ zu sprechen: „Dies ist ein Krieg in Europa“, betonte er.
Selenskyj sprach sich für einen Waffenstillstand in der Ostukraine aus, wie es in Paris vereinbart und durch die trilaterale Kontaktgruppe gebilligt wurde. Jedoch seien in den letzten zwei Monaten mehr als 400 Fälle von Beschuss auf ukrainische Stellungen zu verzeichnen. Selenskyj lobte die wirksame Arbeit des OSZE-SMM als eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des Sicherheitspakets des Minsker Abkommens.
Angesichts der geplanten Kommunalwahlen im Oktober in der gesamten Ukraine, einschließlich bestimmter Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk, plädiert Selenskyj auf eine Durchführung nach ukrainischem Recht, die international als legitim anerkannt werde. Auf der Krim sei dies ohne grundlegende Sicherheits- und politische Bedingungen unmöglich, was gegen die Verfassung der Ukraine und die internationalen Standards demokratischer Wahlen verstoße. Erschwert sei dies zudem durch die Tatsache, dass im vergangenen Jahr in den vorübergehend unkontrollierten Teilen von Donbass 125.000 russische Pässe ausgestellt worden seien, so Selenskyj.
Die Sicherheitsarchitektur Europas müsse ausschließlich auf den Normen und Grundsätzen des Völkerrechts beruhen, die in der Charta der Vereinten Nationen, der Schlussakte von Helsinki und den internationalen Verträgen verankert seien, so der ukrainische Präsident.
„Es ist Zeit zu erkennen, dass wir in einer Welt leben, in der es keinen Krieg mehr eines anderen, und keine Katastrophe eines anderen mehr gibt“, sagte Zelenskyy. – Genau das meinte der damalige Medientheoretiker Marshall McLuhan mit seiner weltbekannten These vom „global village“ („globales Dorf“). Nein, die Welt ist zu einem globalen Dorf zusammengeschrumpft und trägt gemeinsame Verantwortung.