Von Michelle Eickmeier
Der jüngste Machtwechsel innerhalb des Kremls ist derzeit das Topthema in Russland, was auch die Trends in den sozialen Medien anzeigen. Der Rücktritt der gesamten russischen Regierung unter Premierminister Dmitri Medwedew, und damit des zweitmächtigsten Mannes im Staat, kam nur wenige Stunden nach der Ankündigung einer Verfassungsänderung durch Präsident Wladimir Putin während seiner alljährlichen Ansprache zur Lage der Nation, die eine Stärkung der Befugnisse von Parlament und Kabinett vorsieht. Somit würde der Staatsduma das Recht eingeräumt, der vom Präsidenten für das Amt des Premierministers vorgeschlagenen Kandidatur zuzustimmen. Analysten sehen in diesem Schritt eine beabsichtigte Machtabsicherung Putins, dessen Amtszeit 2024 enden wird. Medwedew, der nach nur einer Amtszeit als Präsident im Jahre 2012 seinem langjährigen Verbündeten Putin die Wiedererlangung des Präsidentenamtes ermöglichte und daher unter Beobachtern als „Platzhalter“ gilt, war seit 2012 Russlands Premierminister.
Was käme auf Europa und Russland zu, wenn Putin auch nach dem Ende seiner derzeitigen Amtszeit als Präsident im Jahr 2024 weiterhin an der Spitze innerhalb des Kremls regieren wird?
Die neue russische Regierung wurde bereits gebildet. Auch ein in erster Lesung von Präsident Wladimir Putin der Staastduma vorgelegtes umfassendes Gesetz zur Verfassungsreform hat das Parlament bereits einstimmig gebilligt. Die zweite Lesung ist für den 11. Februar vorgesehen. Im russischen Staatsfernsehen hatte der damalige Ministerpräsident Dmitri Medwedew den Rücktritt der russischen Regierung erklärt. Putin dankte Medvedev für seinen Dienst, sagte jedoch, das Kabinett des Premierministers habe nicht alle seine Ziele erreicht. Medwedew sagte, der Präsident solle für die von ihm vorgeschlagene Verfassungsreform, die gravierende Änderungen in der „Balance zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative“ vorsähen, die Möglichkeit haben, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.“ Dmitri Medwedew hat bereits seine neue Position als stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrats eingenommen. Michail Mischustin, bislang Chef der Steuerbehörde, ist zum neuen Ministerpräsidenten ernannt worden.
Gewaltenteilung aus der Balance
Kritiker bemängeln die Schnelligkeit und den Mangel an Demokratie dieses Prozesses, der die Gewaltenteilung störe. Eine Institution über den Präsidenten zu stellen, würde „nichts anderes als eine Diarchie bedeuten – eine absolut ruinöse Situation für ein Land wie Russland“, positioniert sich Putin.
Der tiefgreifende Charakter der Änderungen wirke sich so stark auf die Bedeutung der grundlegenden Bestimmungen der Verfassung aus, dass jedes andere Verfahren zur Annahme von Änderungsanträgen Zweifel an der Legitimität solcher umfassenden Änderungen hervorrufe, gibt das EU-Russland-Forum für Zivilgesellschaft (EU-Russia Civil Society Forum) zu Bedenken. Weiter heißt es:
„Diese Änderungen würden nicht nur die Befugnisse des Präsidenten stärken, die Unabhängigkeit der Justiz schwächen, die Regierungsführung auf Kosten der Regionen zentralisieren und die Autonomie der lokalen Selbstverwaltung aufheben, sondern auch den Staatsrat […].“
Es befürchtet eine Beeinträchtigung der Einhaltung internationaler Verpflichtungen durch die Russische Föderation. Der Vorstand des Forums der Zivilgesellschaft EU-Russland fordert eine genaue Beobachtung der Einhaltung dieser Verpflichtungen durch den Europarat, insbesondere dem für Menschenrechte zuständigen Kommissionsmitglied, dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung.
Medwedew: „Es war manchmal sehr schwierig“
Einen Tag nach seinem Rücktritt als russischer Premier bedankte sich Medwedew bei allen Regierungsmitgliedern für die „großartige Arbeit“ und erklärte über einen verlinkten Tweet:
„[…] Es war manchmal sehr schwierig. Aber wir haben Lösungen gefunden, die unserem Land geholfen haben, voranzukommen und sich zu entwickeln. […] Die ganze Zeit arbeitete die Regierung als ein Team – ein Team von Gleichgesinnten, auf die ich mich verlassen und denen ich vertraute. Auch die neuen Großaufgaben, die der russische Präsident in seiner Ansprache gestellt hat, erfordern neue Ansätze. Ich bin sicher, dass die Regierung, die in naher Zukunft ernannt wird, damit fertig wird. Ich wünsche ihm viel Erfolg bei seiner Arbeit und der Umsetzung aller seiner Pläne.“
Medwedew nannte den Zeitfaktor als weiteren Beweggrund für den Regierungsrücktritt. In einem Interview mit Channel One erklärte Medwedew, er sei zu dem Schluss gekommen, dass in den Regierungen der Sowjet- und Zarenzeit und der jüngeren Geschichte Russlands niemand mehr als acht Jahre lang die Regierung geleitet habe. Weiterhin betonte er die „komplizierte Arbeit, Entscheidungen in äußerst schwierigen Fragen zu treffen“ und lobte die Arbeit seines Kabinetts unter den Sanktionen, die Russland seit 2014 aufgrund des angekündigten Referendums auf der Krim durch die EU, die Vereinigten Staaten und andere Staaten auferlegt wurden.
Medwedew sprach von „einer Reihe von schmerzhaften Entscheidungen und ungelösten Problemen“, sei aber „im Allgemeinen mit dem Stand der Dinge und der Funktionsweise der höchsten Exekutivbehörde zufrieden“.
Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt zwar das unmissverständliche D’accord mit seinem langjährigen Amtskollegen Putin, doch auch die Sorge um die Professionalität der neuen Regierungsanwärter, die von heute auf morgen eine erfahrene Regierungstruppe ersetzen sollen. Auch wenn der Regierungswechsel nicht überraschend für Medwedew gekommen sein mag, setzt er ein Fragezeichen hinter diesen Prozess, auf den er nur bedingt, wenn gar keinen Einfluss hat.
Putin hatte die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Bewertung seiner vorgeschlagenen Verfassungsreform angeordnet. Hierzu zählen kremlfreundliche Gesetzgeber sowie unter anderem der Pianist Denis Matsuev und die ehemalige olympische Stabhochspringerin Yelena Isinbayeva.
Der Vorsitzende der Partei „Einiges Russland“, Dmitry Medvedev, schlug auf einer Sitzung des Präsidiums des Hohen Rates vor, die Verantwortung für die Arbeit der lokalen Exekutive zu stärken. Er ist überzeugt, dass dafür mit ihren Vertretern in der Legislative und in der Exekutive alle notwendigen Werkzeuge vorhanden sind.
Medwedew erklärte, die Unterstützung der neuen Regierung bedeute parteipolitische Verantwortung, nicht nur für Parteimitglieder, sondern für alle Bürger des Landes. Gleichzeitig solle das „Einige Russland“ die Arbeit der Regierung objektiv bewerten und sich in Bezug auf die Ausführungsqualität sowie der Umsetzung mit der Regierung abstimmen, wobei die Partei die Exekutive nicht ersetzen dürfe, so der Parteivorsitzende.
Bereits zuvor, wenige Tage nach der angekündigten Verfassungsreform, erklärte Medwedew in einem Interview mit dem Programm Vremya, dass die wichtigsten Aufgaben der Partei mit der Verbesserung des Wohlergehens der Menschen zusammenhängen werden. Die Partei habe eine große Verantwortung für die Entwicklung des Landes und gegenüber den russischen Bürgern, betonte er, der die Lösung auch in der Realisierung nationaler Projekte sieht. Auf Führungsebene bemühe man sich sehr, bei der Umsetzung dieser Aufgaben zu helfen, so Medvedev.
In diesem Vorhaben trifft Medwedew auf einen wunden Punkt: Viele Bürger sind von Armut und der jüngsten Anhebung des Rentenalters betroffen, das Land erlebte immer wieder große Protestaktionen. Immer wieder kommt es zu Festnahmen der russischen Oppositionsfigur Aleksei Navalny, der sich am Präsidentschaftswahlkampf 2018 beteiligte, und anderen Oppositionellen, was international als demokratiefeindlich kritisiert wird. Bei Protesten gegen die Rentenreform 2018 in Moskau, wurden mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen. Der offizielle Vorwurf lautet, nicht genehmigte Kundgebungen organisiert zu haben und damit wiederholt gegen die bestehenden Vorschriften der Durchführung öffentlicher Veranstaltungen verstoßen zu haben.
Auch hinsichtlich Medwedew selbst zeigt sich die Nation gespalten, sehen doch viele in ihm einen „Platzhalter“, gar eine „Marionette“ Putins, was Medwedew bestreitet. Bereits 2011 anlässlich seines Verzichts einer weiteren Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation sagte Medwedew in einem Interview mit dem Nachrichtensender RT:
„Mein größtes Ziel ist es, für mein Land und meine Leute nützlich zu sein. Wenn Sie diesen Ehrgeiz nicht haben, sollten Sie nicht in die Politik einsteigen.“
Er betonte die politische Einheit mit seinem Verbündeten Putin, und sagte, sie gehörten beide derselben politischen Kraft an, ihre Sichtweisen seien sehr ähnlich vor allem im Bereich strategischer Fragen, und wie sich das Land weiterentwickeln solle. Daher sei eine Rivalität überflüssig.
Eines scheint klar, was Putin will, bekommt Putin auch – umso mehr durch die Absicherung seiner Machtposition mittels einer Verfassungsreform.
Was bringt Putin Europa und der Welt?
Was die nächsten Jahre mit Putin an der Spitze der Regierung für Europa und die Welt bedeuten werden, sind die großen außen- und sicherheitspolitischen Fragen.
Nuklearabkommen INF vs. New-START
Nachdem die USA das wichtige Nuklearabkommen, den INF-Vertrag mit Russland einseitig aufgelöst hatten, bietet Putin neue Verhandlungen zum Rüstungskontrollvertrag New-START (Strategic Arms Reduction Treaty) an. Putin äußerte sich besorgt über die Zukunft des New-START-Abkommens und kritisierte das mangelnde Interesse der USA. Es ist ein Zeichen der Kooperation, auf das die USA bisher nicht eingegangen sind.
Im Raum steht die Angst vor einem neuen Wettrüsten zwischen den Vereinigten Staaten und Russland in Europa sowie auf asiatisch-pazifischem Terrain, vor dem Beobachter warnen. Im Hintergrund steht der Vorwurf der Entwicklung und des Einsatzes des russischen Raketensystems 9M729, der laut NATO gegen den INF-Vertrag verstoße. Diese Raketen seien besonders gefährlich, weil sie schwer zu lokalisieren, mobil und nuklearfähig seien und zudem die Warnzeit verkürzen. Putin bestreitet einen INF-Verstoß. – USA, it’s your turn!
Krisenherd Ukraine
Der im April 2020 sechs Jahre andauernde Krieg in der Ostukraine hat nach Zahlen der Uno-Menschenrechtsbeobachtermission (OHCHR) bereits 12.447 Todesopfer gefordert, darunter 3.320 Zivilisten. Während die Souveränität der durch Russland annektierten Krim international weiterhin als primär ukrainisches Staatsgebiet angesehen wird, machte Putin unmissverständlich klar, in diesem Punkt zu keinem Kompromiss bereit zu sein. Die Krim bleibt voraussichtlich bis 2024 in russischer Hand, wobei eine Rückgängigmachung nach diesem Zeitpunkt als noch unwahrscheinlicher gelten mag. Fälle wie die Konfrontation Russlands mit der Ukraine im Schwarzen Meer, in der Straße von Kertsch von 2018, demonstrieren die schweren Spannungen zwischen Kiew und Moskau. Eine Verschärfung der Situation im besetzten Teil der Ostukraine ist ohne den vollständigen Abzug der prorussischen Separatisten weiterhin hoch, wenngleich Gespräche im „Normandie-Format“ in Berlin und Paris auf eine friedliche Lösung drängen. Russia, it’s your turn!
Syrienkrieg
Der Schandfleck der Welt bleibt weiterhin Syrien, dessen Zivilbevölkerung von einem Bombenmeer und tödlichen Giftgasangriffen ausgezehrt ist. Laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind über 380.000 Menschen getötet worden, darunter seien 115.000 Zivilisten, davon rund 22.000 Kinder. Russland verhinderte mehrfach eine UN-Resolution im Weltsicherheitsrat zur Untersuchung von Verbrechen in Syrien durch den Internationalen Strafgerichtshof. Menschenrechtsbeobachter sehen in diesem Vorgehen ein Blockieren im Aufklärungsprozess sowie eine Unterstützung der Gräueltaten Baschar al-Assads, und beschuldigen Russland an vorderster Front an der Tötung von Zivilisten beteiligt gewesen zu sein, indem es Krankenhäuser gezielt angegriffen habe. Wird Putin den Diktator Assad weiterhin unterstützen? – Russia, it’s your turn!
Hybride Bedrohung
Sowohl die NATO als auch die EU haben sie als Bedrohung eingestuft: Die Hybrid-Taktiken Moskaus zehren seit der Annexion der Krim an der Oberfläche des transatlantischen Bündnisses. EU und NATO sind bereits 2016 eine enge Kooperation im Kampf gegen hybride Bedrohungen eingegangen. Die NATO hatte bereits auf dem Gipfeltreffen in Warschau 2016 vereinbart, ein hybrider Angriff könne den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags und damit den Bündnisfall auslösen. Seitdem erkennt die NATO die Bekämpfung hybrider Kriegsführung als Teil ihrer kollektiven Verteidigung an. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren, scheint sich diese aggressive Lage derzeit ein wenig beruhigt zu haben. Im Interview mit euronews von 2018 sagte Medwedew als damaliger Ministerpräsident, notfalls asymmetrisch auf Wirtschaftssanktionen und Handelskriege reagieren zu wollen:
„In der heutigen Welt gibt es verschiedene Formen der Reaktion, einschließlich, wie gesagt, asymmetrischer Reaktionen. Dies ist nicht unbedingt militärischer Natur. Es ist nicht erforderlich, mit angemessenen wirtschaftlichen Mitteln auf wirtschaftliche Bedrohungen oder wirtschaftliche Erpressungen zu reagieren.“
Gerade Hybrid-Szenarien sind kaum kalkulierbar. Die künftige Aktivität der asymmetrischen Kriegsführung wird stark vom Vorgehen der Bündnispartner abhängen und damit eine bedeutende Rolle für Europa spielen. Eine weitere Spaltung der Europäischen Union (EU) nach Art des Brexits darf Europa nicht erleiden, da sie eine Schwächung bedeuten. Moskau bestreitet das Ansinnen, die EU schwächen zu wollen, doch genau in diesem Punkt hatte die EU die rote Karte gezeigt, was sie weiterhin wachsam verfolgen sollte. Russland wird die EU als starken Partner wahrnehmen, was die größte Friedensprävention sein kann. Auch andere Staaten sinnen nach einer Schwächung der EU, weshalb sie ihre Souveränität im politischen Diskurs behaupten muss, weniger im militärischen Bereich. Eine erzielte Schwächung der EU rückt die alte russische Kritik an der NATO-Osterweiterung hierbei in den Hintergrund. – EU, it’s your turn!
Nord Stream 2-Diskurs
Als einen der wenigen gemeinsamen Nenner in den schwierigen Deutschland-Russland-Beziehungen könnte das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 gesehen werden. Gleichzeitig bietet es international die höchste Angriffsfläche. Die USA kritisieren den Bau scharf. So mahnte US-Vizepräsident Mike Pence auf der 55. Münchner Sicherheitskonferenz in Anspielung auf Deutschland, die USA könne die Sicherheit seiner Verbündeten im Westen nicht garantieren, solange sie vom Osten abhängig seien. Gleichzeitig bekannte er offen, die USA wollten zum weltweit größten Öl- und Gasproduzenten werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel konterte, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas hänge nicht davon ab, ob die Gas-Pipeline gebaut werde oder nicht. Das Projekt ist kaum als Hybrid-Taktik Moskaus zu verstehen, zu alt ist sein Gedanke mit Nord Stream 1, zu wichtig ist die Fertigstellung für beide, sowohl Deutschland als auch Russland. Mit Russland Geschäfte zu machen und den USA hiermit ein gesundes Selbstbewusstsein zu demonstrieren ist wichtig und richtig für Deutschland. Dabei darf Deutschland nicht seine Glaubwürdigkeit einbüßen – gleichzeitig muss in Sachen Ukraine beschwichtigt werden und eine neue Politik auf Augenhöhe her. Ein erster Schritt in diese Richtung und ein eindeutiges Signal wären die schrittweise Aufhebung der Sanktionen. – Germany, it’s your turn!
AP/Reuters/RFE/RL/RT/РБК